Marc Chagalls Bilder seiner Heimatstadt Witebsk begründeten den Mythos des Schtetl: Bis heute prägen sie unsere Vorstellung von den Orten, an denen die Juden Osteuropas lebten. Seit Chagall gehören Figuren wie der Geiger auf dem Dach zum imaginären Inventar dieser versunkenen und vernichteten Welt.
Wie ist die ungeheure Wirkung von Chagalls Schtetl-Bildern zu erklären?
Es sind ihre vielfach gebrochenen Spiegelungen in der Literatur, die Fährten zu einer Antwort legen: Auch die Prosa der Zeit nahm bildgewaltig Abschied von einer Jahrhunderte alten Lebenswelt, die einer Epoche revolutionärer Umbrüche und totalitärer Gewalt zum Opfer fiel.
In literarischen Schtetl-Bildern hielten Schriftsteller wie Scholom Alejchem, Isaak Babel, Joseph Roth und Der Nister, der die jiddischen Buddenbrooks schrieb, noch einmal fest, was die kleine ostjüdische Stadt von allen anderen unterschied – und erschufen dabei, gemeinsam mit Marc Chagall, das Schtetl als europäischen Sehnsuchtsort.
Das Bucerius Kunstforum zeigt die Ausstellung »Marc Chagall. Lebenslinien« bis 16. Januar 2011. Wegen großem Interesse wiederholt der Jüdische Salon am Grindel e.V. die Veranstaltung aus dem Rahmenprogramm vom 3. November.