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Die Zeit beschwören

Lektüre
Von Marie Rotkopf
Montag, 10. August 2020 - 15:00
Marie Rotkopf (Foto © Katja Klein)

- Le pays est en état d‘urgence, dit le Premier ministre, et je suis en état d‘érection.
Pierre Goldman
Et quoi que j‘apprenne, je ne sais pas, pourquoi je saigne, et pas toi.

Jean-Jacques Goldman

 

In der Dringlichkeit

Sein

Du bist außerhalb der Zeit

Du solltest voran kommen und du bist wie von der Zeit aufgehängt

Du hast schon drei Wochen verloren und die Sonne scheint im Norden wie an der Côte d‘Azur, das schöne Wetter verspricht uns allen die Unendlichkeit, dafür liest du jeden Morgen die französischen Pressenachrichten, welche man seit langem nicht mehr als Presse bezeichnen kann, abhängig und gierig, besessen, du bewegst dich nicht mehr, obwohl du es hier darfst, in Deutschland, du schämst dich manchmal, wenn du mit deiner Familie oder deinen Freunden aus Frankreich dank der Digitalisierung in Kontakt kommst, jeden Tag, soziale Distanzierung und Bescheinigungen, Ausgangsberechtigungen, hier liebt man die Polizei, dort herrscht schon

Krieg

Die Ungerechtigkeiten regen dich auf

Die Unterschiede der Kulturen, der Definitionen, die Akzeptanz der verschiedenen Strategien zwischen den Ländern innerhalb der Europäischen Union

Das Monopol der guten Organisation und der Stille

Die Ungerechtigkeit regt dich auf

Du hast nichts verstanden.

 

Men ist azoy wie Gott in Frankreich, du denkst an dieses jiddische Sprichwort und heute,
ist trotz Kontaktsperre Deutschland der Luxus der Illusion - und in einem Jahr mit 13 Monden - unsere Zukunft. So kann sich die äußerste Lüge wie ein Virus verbreiten

 

Du willst

Löcher in die Zeit

Bohren

Keine seltsamen Zeiten

Auch keine Holzwege

Keine globale Neuordnung

Nur eine Fortsetzung

Nur die Kontinuität

Das Virus zeigt vor aller Augen, die nicht geschlossen sind,

wie wir in einer Gesellschaft der Spaltung leben, teile und herrsche

In allen Schulen der europäischen Union

Es steht sowieso ins Blut eingeschrieben: Euro und Konkurrenz

Es ist nur eine Fortsetzung, nur ein wenig schlimmer

Diese Folge wolltest du nicht

Aber was du nicht willst, will die Demokratie der Plutokratie

Du hast nichts verstanden.

 

Die Demokratie, welche die Gesichtslosigkeit der Sieger zeigt,

hat die Würde nach Emmanuel Lévinas in der Versenkung verschwinden lassen,

seine Philosophie des Antlitzes reflektiert das Spektakel von Angesicht zu Angesicht
und nicht die Verantwortung für den anderen Menschen
Eine Maske für alle

 

Sie brauchen deine Kontaktdaten nicht mehr

Vielleicht dein Herz, wer weiß wofür

Es ist die Konstruktion der on/off Gesellschaft

und du brauchst deren Apps

Dabei wirst du glücklich sein, wenn du dich in die Schlange stellen darfst

 

Geschlossen, geöffnet, geschlossen

Online, Offline, du musst aber immer zur Verfügung stehen

Ein Schritt zurück
Löcher in der Zeit

Tausende Augen hinter dir und es gilt Hassverbot

 

In der Dringlichkeit sein, von der Zeit aufgehängt

Du hast keine Zeit zu sterben

Natürlich werden wir weiter schreien, schreiben, dekonstruieren, und uns vermehren

Für das Überleben des Simulakrums

Für die Demokratie, für die du wählen gehst

Gegen die Bevölkerungen

 

Politik ist das Bohren von dicken Brettern, hatte einmal Max Weber behauptet,
bevor er an der spanischen Grippe starb

Er hatte nichts verstanden.

Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert und die Soziologie befasst sich nur
mit der Beschreibung des Faktischen; die politische Theorie mit der Wahrheit, sagte Franz Neumann als er dich umarmt hat, weil du schon am weinen bist

Woher kommt diese Angst, den Menschen eine Zuordnung in deren Leib tätowieren

zu wollen, in der Kolonie bist du für deine eigene Schuld verantwortlich

Das fragst du dich immer noch

Du hast nichts verstanden.

 

Politik ist die Verschwörung der Antiverschwörung

Die Norm - die Anpassung
 

Du wachst auf in der Nacht, der Schweiß fließt deine Haut entlang, da wo deine Rippen deine Lunge schützen, jeder Tag ein neuer Traum, in dem du in die Zeit bohrst. Du bohrst in die Zeit genau an der Stelle wo Robert Menasse die Europäische Union als Schwur gegen die Shoah verehrt, weil du erlebst, wie irgendeine Wiedergutmachung das deutsche Projekt bildet. Löcher in der Zeit machen. Dafür gibt es Fenster. Fenster wie Löcher in den Gebäuden. Wie früher überall in den Städten. Löcher in den Fassaden. Löcher und Risse wie tausende schwarze Sonnen. Löcher wie die nie zurückgezahlten Schulden Deutschlands. Von nun an, Zertrümmerungen in Europa; im Süden, im Osten. Woanders, wie damals. Die Europäische Union verwischt die deutsche Geschichte nicht, im Gegenteil; sie erbaut die Germania Magna. Daher schaust du die Deutschen an ihren Fenster heimlich an, die Deutschen an ihren Fenstern und Martin Luther lebensmüde an seinem Bett mit einem Schnürsenkel aufgehängt. Wie das möglich ist, hat für dich Martin Heidegger gedacht, durch tausende Worte wie tausende Spiegel, tausende Spiegel wie in Versailles, 1871 wie das Parfum des Deutsches Reiches, tausende kleine Juden, wie tausende kleine Neger, der nächste Deutsche, der auf dich den Stein werfen will, wird zurück in die USA fliegen, in die Zeit der Reeducation. Die Menschen, die hinter dir mit der Lüge des Dolchstoßes und mit einem Karabiner 98k stehen, wissen das.

Weiter schaust du also die Deutschen an ihren Fenstern an, die sich pünktlich um 21Uhr selbst applaudieren und gleichzeitig dem Abbau der Sozialsysteme, für den sie gewählt haben, die neoliberalen mittleren und gehobenen Schichten in deiner grünen Straße, gepflastert mit deinem Unbehagen, und dem der Völker der Peripherie, der Weg zur Hölle, gepflastert mit guten Privatisierungen, guten Subunternehmern und guten Schuldigern, damit die Zerstörung beschleunigt wird, die andere Länder benutzt und die eigenen Alten beschützt, bis die Obszönität ans Licht kommt, durch das Fenster, an welchem Emmanuel Todd mit seinem jüdischen Humor feststellt: Deutschland zeigt noch einmal, dass es anders ist.

 

Und du willst die Zeit beschwören

Dem Schicksal entkommen

Weil du mit der universalen Idee der Aufklärung erzogen worden bist
Du hast dich mit der französischen Idee der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit, entwickelt
Du glaubst an die Egalität zwischen den Menschen

 

Hélas ! Deutschland und Martin Luther haben gewonnen
Martin erwartet mit Martin niederkniend die Erlösung
Und die Ethik lautet: anständig Geld machen

Das nennst du nicht Kultur, sondern deutsche Hybris

Im Felde unbesiegt

Nach der deutschen Kultur und Moral die Lebensweise bestimmen

Morgen haben die Herren dank der europäischen Union die Atombombe
Überleben wirst du nicht

 

Und du fragst dich immer noch, kann man einen Menschen zwingen, dazu zugehören?

Du hast nichts verstanden.

 

Noch ein einziger Versuch
Sich gegen die Zeit zu verschwören

Bevor du stirbst

 

Zeitlos
Ist der Krieg

Wenn es hier nicht geht

Geht es dort

Und ein Jude bleibt ein Neger, und ein Neger ein Jude

 

Aber du,

du bist von der Rasse der Gebrüder Goldman. *** sei Dank bist du kein deutscher Jude.
Sie sind in Deutschland unbekannt, in Frankreich sind sie Stars wie hier Martin Luther
und Wolfgang Schäuble, die auf dem Wasser laufen können. Einen Tag lang fühlst du dich
wie Jean-Jacques, den anderen wie Pierre. Sie sind das Ying und Yang der Philosophie
und haben dich als Ganzes verwirklicht, alte Polacken der gerechten Revolutionen,
sie sind tief in dir

Für die Ewigkeit.

 

Also suchst du Hoffnung, da du ein Mensch bist und nicht Martin heißt

Schau deinen Kindern in die Augen

Natürlich sterben die Zivilisationen

Sie zerstören sich selbst

Wie verbrannte Bücher

 

Alors

Lass dich nicht von den Identitäten spalten, in die Irre führen,

Trotz unserer Unterschiede

Du und Ich,

Wir gehören zu einer Welt, das ist die einzige Wahrheit,
Die Welt wo alle Worte falsch sind.

 

© Marie Rotkopf

 

Foto © Katja Klein

 

Marie Rotkopf, 1975 in Paris geboren, ist Autorin, Dichterin und Kulturkritikerin.

Antiromantisches Manifest, eine poetische Lösung (Edition Nautilus) erschien 2017, Wie ich Rocko S. vergewaltigt habe / Comment j'ai violé Rocko S., zweisprachig (Ink Press, Zürich) im 2019.
Sie schreibt im Herbst 2020 über die abgelehnten Entwürfe der Europaflagge (Wirklichkeit Books, Berlin). Im Frühjahr 2021 erscheint ihr neues Buch, geschrieben mit Marcus Steinweg (Matthes und Seitz, Berlin).

In ihrer Prosa und Lyrik, beschäftigt sich Rotkopf mit der Konstruktion und Kommunikation von Macht. Sie interessiert sich für die Umschreibung der Geschichte und für die Poesie der Welt.
Sie nimmt regelmäßig an Veranstaltungen teil, z.B. über Identitäten in unseren „Postdemokratien“ an der Basler Dokumentartage mit Klaus Theweleit oder an der Ohio State University mit Heike Paul, zur Deutschromantik auf dem resonanzraum festival wie im Warburg-Haus in Hamburg, und über den Sinn der Revolte im Literaturhaus Stuttgart.
Zudem hält sie an der Leuphana Universität Lüneburg das poetisch-politische Seminar: „Ist es möglich, gegen die EU zu sein?“, welches Europa als Mythos reflektiert. 

http://marie-rotkopf.net/

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