Als wäre Lena ein Automat, der Geschichten ausspuckt, sobald man eine Münze einschmeißt. »Lena, schreib’ doch eine Geburtstagskarte für Herrn X«, sagt meine Mutter seit einiger Zeit in regelmäßigen Abständen, dabei kenne ich weder Herrn X noch Herrn Y. Als hätte meine schriftstellerische Karriere etwas mit außergewöhnlich kreativen Gratulationen für mir unbekannte Menschen zu tun. Ich sage dennoch ja. Ja zum Leben, ja zu den Glückwunschkarten und ja zu der Geschichte über Rosch Haschana.
Die Geschichte schreibe ich im Zug. Denn ist es nicht schön, wenn eine Schriftstellerin auf Lesereise, inspiriert von der farbenprächtigen deutschen Landschaft, ihre philosophischen Gedanken über Neuanfänge (weil Neuanfang doch so perfekt zu Rosch Haschana und auch Reisen paßt) in ein kleines zerfleddertes Büchlein schreibt? Ach, was für ein schönes, romantisches, literarisches Bild, das meiner Realität so diametral entgegensteht! Ich sitze im Zug und friere, verfluche Klimaanlagen und esse überteuerte, dickmachende Kekse aus dem Bordrestaurant. Der Akku meines Laptops wird immer leerer, aber das Dokument namens Rosch-ha-Schana.doc bleibt – und hier ein echtes Schriftstellerklischee aus dem Leben – erstaunlich weiß.
Rosch Haschana. Als Produkt der modernen, kreativen Internet-Generation sehe ich über mein Burn-out hinweg und brainstorme mithilfe eines MindMaps vor mich hin. Vier Kekse später habe ich vier Begriffe: Sowjetunion, Philosemiten, Wunder und Neuanfang. Erwartungsvoll starrt mich die leere Kekspackung an, anklagend blickt das ebenso leere Word-Dokument zu mir.
Also Sowjetunion. Im kommunistischen Paradies gab es kein Rosch Haschana, denn es gab ja auch keine Bibel und auch keinen Gott. Letzterer wurde von der allwissenden Partei zu einer Witzfigur degradiert und tauchte auch im Alltagsleben der Genossen höchst selten auf. Dafür gab es Juden in der Sowjetunion, aber möglichst hinter verschlossenen Türen. Meine Großtante neigte dazu, bei Familienfesten nach dem einen oder anderen Wodka-Gläschen jüdische Lieder anzustimmen, Tum-Balalajka und Hava Nagila zum Beispiel. Meine Mutter nickte mir dann zu, das hieß: Schließ’ die Wohnzimmertür. Wände hatten in der Sowjetunion viele Ohren, und auch wenn die meisten Russen die jüdischen Nachbarn am Nachnamen oder der Nase von weitem erkannten, so wollte man doch nicht aus dem kommunistischen Rahmen fallen und jedermann vorsätzlich an den Fehler in der eigenen Biographie erinnern.
Als ich sechs Jahre alt war, teilten mir meine Eltern mit, daß ich jüdisch sei. Sie taten es förmlich, nachdem ich eine verhaßte Klassenkameradin beim Spielen im Hof als »Jüdin« beschimpft hatte. »Zhidowka« rief ich so laut, wie ich konnte, und rannte vorsichtshalber ins Haus, bevor sie mich verfolgen konnte. Am Fenster stand meine Mutter, die mich in einem Ton ins Wohnzimmer beorderte, der nichts Gutes verheißen konnte. Sie kontrollierte, ob alle Türen und Fenster geschlossen waren und sprach leise. In unserer Familie spricht nie jemand leise. Sie teilte mir mit, unsere Familie sei jüdisch und belehrte mich, Jude sei kein Schimpfwort. Sie sagte es in einem sachlichen Ton, ein unumstößlicher Fakt, aber ich haßte sie für diese Tatsache. Meine Mutter fügte hinzu, ich dürfe mit keinem darüber sprechen, das hatte ich auch nicht vor, ich wollte mich ja nicht unbeliebt machen im Hof. Ein paar Jahre lang schwieg ich über mein Judentum hinweg.
Dann kam Rosch Haschana. Das war kurz vor der Auswanderung nach Deutschland, als Verwandte und Bekannte die Koffer für Israel packten und meine Eltern ihr Judentum wiederentdeckten, hinter verschlossenen Türen natürlich. An einem Herbsttag brachte mich die Mutter meiner besten Freundin vom Schwimmtraining nach Hause. In unserer Wohnung roch es nach Feiertagsessen, obwohl es ein Dienstag war. »Oh, ihr erwartet Gäste? Hat jemand Geburtstag?«, fragte die Mutter meiner Freundin. Unsere Eltern kannten sich, seit wir uns im Sandkasten kennengelernt haben, und waren zwangsweise befreundet. »Ja, Verwandte«, antwortete mein Vater ausweichend. Die russische Gastfreundlichkeit gebot eigentlich, meine Freundin und ihre Mutter zum Essen einzuladen, sie mit mehreren Gängen vollzustopfen, bis sie sich nicht mehr bewegen konnten, um ihnen dann Tee und Kuchen vorzusetzen. Mein herzlicher Vater schob die beiden zur Tür hinaus, sichtbar peinlich berührt, genauso wie sie und ich. »Warum hast du sie nicht eingeladen? Sie ist meine beste Freundin! Was feiern wir überhaupt? Warum wurde ich nicht informiert?«, entrüstete ich mich, als die Tür ins Schloß gefallen war, denn mit meinen zehn Jahren war ich schließlich das Oberhaupt der Familie. Mein Vater führte mich in die Küche und machte die Tür hinter uns zu. Schon wieder. »Wir konnten sie nicht einladen. Wir feiern heute jüdisches Neujahr«, erklärte mein Vater und lieferte mir damit mein allererstes Wissen über die jüdische Religion. Dieses löste einen Lachanfall bei mir aus. »Neujahr? Im September?!« Wenn man zehn Jahre alt ist, dienen einem so einige Dinge als Anlaß zu einem nicht enden wollenden Kicheranfall. Ich lachte mich tot und teilte das auch allen mit. »Ich lache mich tot! Neujahr ist, wie jeder weiß, am 1. Januar!«, belehrte ich meine Eltern mit der Souveränität einer besserwisserischen, zehnjährigen, wohlgeschulten Kommunistin. »Nicht in der jüdischen Religion«, erklärte meine Mutter und schlug mir auf die Hände, als ich versuchte, ein Stück geräucherten Schinken zu stibitzen.
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Ich habe brav den Religionsunterricht besucht und weiß nun alles über Rosch Haschana. Manchmal vergesse ich allerdings, wann es genau ist. Das macht aber nichts, denn ich werde jedes Jahr daran erinnert. Erstens von meiner Mutter, die dabei insbesondere betont, daß Rosch Haschana ein Familienfest sei, so wie alle anderen jüdischen und nichtjüdischen Feiertage in ihren Augen Familienfeste sind, an denen andere Kinder, im Gegensatz zu mir, ihre Eltern besuchen. Zweitens von meiner besten jüdischen Freundin, die sich äußerst besorgt zeigt ob der fehlenden Religiosität meiner (nicht geborenen) Kinder, weil ich mit deutschen Freunden manchmal Weihnachtspartys feiere, und die mich auf den Weg des Judentums zurückführen will. Drittens von meinen Philosemiten. Ja, ich habe meine eigenen Philosemiten. Diese verpassen es nie, mir – zuverlässiger noch und uneigennütziger als Mutter und Freundin – zum jüdischen Neujahrsfest zu gratulieren, das sie in ihre Kalender eingetragen haben.
Unter all den vielen guten Menschen, die uns im Asylbewerberheim besuchten, in dem wir unsere ersten anderthalb Jahre als Kontingentflüchtlinge in Deutschland verbrachten, war auch eine richtige Gutmenschin. Jedes Mal, wenn sie uns besuchte, sprach sie uns mit »Meine lieben jüdischen Freunde« an. Sie hatte einen jüdischen Kalender, an ihrem Auto klebte ein Israel-Sticker. An unserem ersten Rosch Haschana in Deutschland büffelten meine Eltern gerade fleißig Deutsch, ich übte die deutsche Hymne für den Musikunterricht in der Schule, an diesem Tag sah sich meine Großmutter seufzend die Bilder der Verwandten in Rußland an, und abends spazierten wir wie jeden Tag zur Telefonzelle, um meinen Bruder in seiner Studienstadt anzurufen, wo er wiederum vor einer anderen Telefonzelle auf unseren Anruf wartete. An unserem ersten Rosch Haschana in Deutschland tauchte die Gutmenschin auf, sie brachte uns bei, wie man »Schana towa« ausspricht, und wollte viele Bilder knipsen, auf denen sie mit meinen Eltern vor unserem siebenarmigen Kerzenleuchter zu sehen war. Als wir aus dem Asylbewerberheim in eine Wohnung zogen, verloren wir die Gutmenschin, nicht ganz unbeabsichtigt, aus den Augen. Aber jedes Jahr denke ich an sie. Ich warte darauf, daß sie meine Adresse herausfindet und mir eine Karte zu Rosch Haschana schickt. Wundern würde mich das nicht. Denn mit Wundern habe ich so meine Erfahrung.
Das Chanukka-Wunder meiner Familie geschah an Rosch Haschana. Es geschah in New York und wird von Tante zu Großonkel, von Cousin zur Cousine fünften Grades, von Land zu Land übertragen, später bestimmt auch von Generation zu Generation. Als meine Cousine 19 Jahre alt war und meine Familie noch in Sankt Petersburg lebte, verliebte sie sich in einen Zionisten. Er lernte Hebräisch und ließ sich einen Bart wachsen. Er wollte nach Israel auswandern, in seine wahre Heimat. Meine Cousine, bis über beide Ohren verliebt und etwas zu spät, aber trotzdem am Rebellieren, begleitete ihn.
Zwei Jahre später wanderte meine Familie nach Deutschland aus, ein weiteres Jahr später flogen meine Tante, mein Onkel und mein Cousin in das gelobte Land der Vereinigten Staaten, um dort ein neues Zuhause zu finden. Sie machten in Wien Station, wo sie Berkeley kennenlernten. Berkeley war ein älterer, reicher, in seinem Rentendasein gelangweilter Amerikaner, einer von denen, die immerzu »It’s amazing« sagen und »It’s so nice to meet you« gleich fünf Mal hintereinander. Aus unerfindlichen Gründen schloß er meine Verwandten ins Herz. In New York holte er sie vom Flughafen ab, er gab ihnen seine alten Möbel und half bei der Wohnungs- und Jobsuche. Meine Tante nennt ihn ihren Retter.
Meine Tante wollte sich revanchieren, wußte aber nicht wie. Als kleines Dankeschön lud sie Berkeley und seine Familie zu Rosch Haschana ein. In ihrem winzigen Appartement voller unausgepackter Kisten mit Erinnerungen aus Rußland veranstaltete sie ein Festessen, dessen Angebotsvielfalt, so geht die Sage, alle Familienfeste zusammengenommen überstiegen haben soll. Berkeley wollte sich revanchieren. Im darauffolgenden Jahr lud er meine Familie an Rosch Haschana zu sich ein. Er lud alle ein, Großtanten und deren Familien eingeschlossen. Sie alle kamen in das große Haus des großen Berkeley, sie durchschritten den langen Flur zum Wohnzimmer, und da saß meine Cousine aus Israel. Vier Jahre lang hatte sie ihre Familie nicht gesehen. Vier Jahre lang ohne ihre Mutter, ihren Vater, ihren Bruder, ihre Großmutter. Vier Jahre lang ganz alleine in einem fremden Land. Meine Tante und mein Onkel, ganz frisch in Amerika, gerade mal ein Jahr, hatten kein Geld, um nach Israel zu fliegen. Meine Cousine studierte und lebte von dem Geld, das sie sich durch Musikunterricht verdiente, und träumte nicht einmal von einem Flugticket nach New York. Berkeley lud sie ein. Berkeley schickte ihr ein Flugticket, wie in einem Hollywood-Film, und holte sie mit einem großen Schild vom Flughafen ab. Er sagte keinem ein Wort davon. Das wirkliche Chanukkawunder mag an Chanukka passiert sein und von Makkabäern handeln. Für meine Familie schuf Berkeley ein Wunder an Rosch Haschana.
Mir ist klar, daß jede Geschichte ein Ende braucht. Ein moralisches, ein offenes, ein richtiges Ende. Diese Geschichte endet mit einem Anfang. Einem Neuanfang, der mit einem schönen Rosch-Haschana-Fest beginnen sollte, hinter und mit offenen Türen. Einem Neuanfang, der uns friedliches Zusammenleben mit allen Religionen bescheren soll sowie viele kleine Wunder an jedem Tag.
©2006 Lena Gorelik mit freundlicher Genehmigung der Autorin
Foto © Charlotte Troll
Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Mit ihrem Debütroman «Meine weißen Nächte» (2004) wurde sie als Entdeckung gefeiert, mit «Hochzeit in Jerusalem» (2007) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr Roman «Die Listensammlerin» (2013) wurde mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet. 2015 erschien «Null bis unendlich», der vielgelobte Roman «Mehr schwarz als lila» (2017) war für den Deutschen Jugendbuchpreis nominiert. Lena Gorelik lebt mit ihrer Familie in München.