
Welche andere europäische Stadt hatte so lebendige Mythen hervorgebracht wie Odessa? Dabei ist die Hafenstadt am Schwarzen Meer Europas mit gerade einmal 230 Jahren Europas jüngste Metropole. Seit der Gründung durch Katharina die Große 1794 lockte Odessa mit Freiheiten und Aufstiegsmöglichkeiten, die es sonst nirgends gab. Menschen aus aller Herren Länder, aller Berufe, Sprachen und Religionen waren willkommen, um die einstige osmanische Siedlung zu einer prächtigen Stadt zu machen.
Als kosmopolitischer Hort der Toleranz bot Odessa besonders den russischen Juden Entwicklungschancen, die ihnen im übrigen Russland verwehrt waren. Sie wurden zum Triebrad des schwindelerregenden wirtschaftlichen Aufschwungs der Hafenstadt, deren Geschäft der Weizenexport Süden war. Sie nutzten die Freiheit, um jüdische Selbsthilfegruppen, Kultur- und Sportvereine zu gründen. So konnte in Odessa die Idee eines jüdischen Staates Gestalt annehmen. Die Hafenstadt nimmt für sich in Anspruch, der eigentliche Gründungsort Israels zu sein. Wie Meir Dizengoff, Tel Avivs erster Bürgermeister, kamen viele Zionisten aus Odessa.
Und es waren jüdische Schriftsteller wie Scholom Alejchem, Isaak Babel und Vladimir Jabotinsky, die an der odessitischen Mythenbildung mitwirkten. Sie machten Odessa zum europäischen Sehnsuchtsort. Aber auch Liedermacher und Filmregisseure besangen die Schönheit von Lady Odessa und ihr Faible für das ortstypische Gangstertum. Alle zusammen erschufen ein Odessa, das in der eigenen Folklore lebte.
Heute ist Odessa eine ukrainische Stadt im Krieg, die um ihr Überleben kämpft – und sich vielfach von ihrer russischen Vergangenheit lösen will.
Brigitte van Kann moderiert und berichtet von ihrer Reise nach Odessa im Oktober 2025
Sonja Szylowicki liest aus Odessaer Geschichten von Isaak Babel und vielen anderen.
